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Heilsames Gärtnern

Die Hände in die Erde gleiten lassen, Wurzel­ ballen andrücken, Kräuter pflücken und ihren Duft tief einatmen, Pflanzen nach Farben ar­ rangieren – Gärtnern kann so sinnlich sein. Es ist viel mehr als das funktionale Rasen­ mähen, Heckeschneiden oder Laubkehren. Es verbindet Menschen auf besondere Weise mit der Natur. Und mit sich selbst.

Am Thema Gartenarbeit scheiden sich die Geister: Was für die einen reine Pflichterfüllung ist, um das eigene Grün im Zaum und vorzeigbar zu halten, genießen die anderen als echtes Naturerlebnis. Pflanzen zu pflegen und ihnen beim Wachsen zuzusehen gilt schon seit Jahren als eines der beliebtesten Hobbys – davon zeugen liebevoll gepflegte Haus- und Kleingärten sowie zahlreiche Urban-Gardening-Projekte. Das Wirken in und mit der Natur hat auch medizinisch-psychologische Vorzüge: Es tut Körper und Seele einfach gut.

Bewegung für den Körper

Spätestens seit der Pandemie rückt das Thema Mental Health mehr und mehr in den Vordergrund. Die grünen Lungen der Städte und die stadtnahen Wälder und Wiesen bieten besonders denjenigen Erholung, die ihr komplettes Arbeitsleben drinnen verbringen. Natur beobachten, hören und riechen – das bildet einen erholsamen Kontrapunkt. In der Natur arbeiten, sie mitgestalten – damit gehen Garten-Fans noch einen Schritt weiter. Medizinisch gesehen ist Gartenarbeit ein Sport. Mähen, Graben und Harken stärken das Herz-Kreislauf-System,

verbessern die Atmung und senken Puls und Blutdruck. Wer sich auf diese Weise an der frischen Luft anstrengt, bringt die Abwehrkräfte in Schwung und trainiert viele große und kleine Muskeln gleichzeitig, vor allem in Armen, Beinen, Rücken und Bauch. Nach einem Arbeitstag im Sitzen steigert das Gärtnern die Beweglichkeit gerade jener Körperpartien, die so lange stillhalten mussten. Nach einer medizinischen Studie senkt Gärtnern erhöhte Kortisolwerte, also das Stresslevel, in 30 Minuten um mehr als 20 Prozent. Das ist doppelt so viel, wie die Lektüre eines Buches bewirken kann.

Ruhe für den Geist

Messungen der Gehirnaktivität haben gezeigt, dass Gartenarbeit die Hirnströme ausgleicht und dazu beiträgt, dass Störungen weggeschaltet werden. Das Gehirn funktioniert wieder effizienter. Der Gang in den Garten ist also eine sehr zielführende Auszeit vom Alltagssprint. Schon das Hören von Naturgeräuschen und der Blick ins Grüne wirken entspannend. Der Griff zur Gartenschere oder zum Spaten leitet dann Aktivitäten ein, die den Geist beruhigen und mit der Zeit eine enge Beziehung zur Natur aufbauen. Wer sich durch das Gestalten der eigenen Grünfläche einfach nur entspannen will, lässt seinen Gedanken freien Lauf und genießt die meditative Wirkung.

Und wer sich für die Eigenheiten und Abhängigkeiten von Pflanzen interessiert und sich viel Wissen aneignet, bevor es an die Umsetzung geht, kann auch auf diesem Weg seine Bindung zur Natur vertiefen. Wie auch immer man das Gärtnern für sich entdeckt, in jedem Fall wirkt die Interaktion mit der Natur bereits nach kurzer Zeit stimmungsaufhellend und stärkt das Selbstbewusstsein – schließlich schafft man etwas mit den Händen, was sich später weiterentwickelt und immer wieder bewundern lässt. Diese Form der Selbstwirksamkeit sowie das sinnliche Erleben in und mit der Natur haben enormes therapeutisches Potenzial, das Wissenschaftler und Gartenprofis bereits vor Jahrzehnten erkannten.

Garten als Therapieersatz

In den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts begann die amerikanische Forschung, sich mit dem Garten als therapeutischem Medium auseinanderzusetzen. Damals ließ man verwundete und traumatisierte Soldaten aus dem Korea- und dem Vietnamkrieg in Gärten arbeiten, um ihre Rehabilitation zu fördern. In Deutschland war es der Gärtner Andreas Niepel, der in den 1990er-Jahren als Angestellter einer Klinik für Neurologie die vielen positiven Effekte des Gärtnerns für die Patienten beobachtete und sich deshalb engagiert für diese Form der Behandlungsmöglichkeit einsetzte, einige Jahre später dann als Präsident der Internationalen Gesellschaft Gartentherapie (IGGT). Der 2009 gegründete Verband arbeitet heute in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit Profis aus den Bereichen Gartenbau, Therapie und Sozialdienst zusammen. Gärtnerinnen und Gärtner oder Menschen mit medizinischen oder therapeutischen Berufen können heute eine gartentherapeutische Weiterbildung absolvieren und sich vom Fachverband anschließend als Gartentherapeut bzw. -therapeutin registrieren lassen.

Mensch und Natur zusammenbringen

Die gesundheitsfördernde Seite des Gärtnerns steht für Gartentherapeuten und -therapeutinnen im Vordergrund, wenn sie mit Schulen, Kitas, Umweltbildungsstätten, Senioreneinrichtungen oder Kliniken zusammenarbeiten. Dabei geht es vor allem darum, eine tiefe Verbindung zwischen Mensch und Natur herzustellen, die das Umweltbewusstsein erhöht, das allgemeine Wohlbefinden verbessert und Krankheiten lindert. Burn-out-Betroffene und emotional belastete Kinder sowie Erwachsene profitieren zum Beispiel von diesem Ansatz, denn die Arbeit mit Pflanzen an der frischen Luft lässt Sorgen in den Hintergrund treten und wirkt Depressionen und Ängsten entgegen. Gerade Menschen, die sich in ihrem Beruf fremdbestimmt fühlen, genießen ihren Gestaltungsspielraum bei der Gartenarbeit, auch wenn er nur auf ein Fleckchen Erde begrenzt ist. Die Freude über die sicht- und essbaren Erfolge ist dann in der Regel größer als die Enttäuschung über Misserfolge, die im Zusammenspiel mit den Naturgewalten weniger persönlich genommen werden. Veränderungen tolerieren, auch das ist ein therapeutisches Ziel der Pflanzenpflege. Gleichzeitig lernt man im Garten, sich dem Tempo der Natur anzupassen. „Gras wächst nicht schneller, wenn man an ihm zieht“, heißt es im Volksmund, in Anspielung auf fehlende Geduld. Auch das Abwarten kann man im Garten trainieren, und vielleicht inspiriert das langsame Wachsen der Pflanzen sogar dazu, das eigene Tempo zu drosseln.

„Die Arbeit mit Pflanzen an der
frischen Luft lässt Sorgen in den Hintergrund treten und wirkt Depressionen und Ängsten entgegen.“

Pflegebedürftige werden zu Pflegenden

Viele Senioreneinrichtungen setzen mittlerweile auf die Gartentherapie. Die Pflege der Pflanzen mithilfe von Gartenwerkzeug schult die Motorik, das Arbeiten mit Erde, Wasser, Blättern und Blüten regt die sinnliche Wahrnehmung an. Über Gartenarbeit lässt sich das Gedächtnis trainieren und sogar das Schmerzempfinden dämpfen. Und wer die Verantwortung für Pflanzen übernimmt, steigert auch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, das fördert die Selbstachtung. Das gemeinschaftliche Anpflanzen von Blumenbeeten, das Schneiden von Kräutern und Ernten von Gemüse hat darüber hinaus auch eine soziale Funktion: Bei der Arbeit im Freien kommt man viel schneller ins Gespräch als in den eigenen vier Wänden.

Die individuelle Oase

Wer hinaus in die Natur will und voller Tatendrang ist, sollte diesem Gefühl unbedingt nachgeben, so die Gartentherapeuten. Das eigene Grünareal bietet zu jeder Jahreszeit Inspiration und unterschiedliche Beschäftigungsmöglichkeiten – vorausgesetzt, man hat den passenden Rahmen für sich gefunden. Was also muss der eigene Garten beinhalten, damit er sich auch als Ort eignet, an dem man wirken und mit der Natur in Interaktion treten kann? Gemüsebeete in verschiedenen Höhen – für die Großen und Kleinen? Spalierobst und Beerensträucher? Kräuterspiralen oder viel Platz für die Lieblingsblumen? Wenn die individuelle Ausrichtung stimmt, kann die Pflege der eigenen Wohlfühloase wie ein Kurzurlaub wirken.